Angela Merkel—Beim Führen den richtigen Ton treffen

31. August 2019

1. Einleitung

Sehr geehrter Herr Dekan, geehrte Fakultätsmitglieder, werter Herr Ministerpräsident, sehr geehrter Herr Oberbürgermeister, liebe Absolventinnen und Absolventen des Jahrgangs 2019, sehr geehrte Damen und Herren, und natürlich, sehr verehrte Frau Bundeskanzlerin, liebe Angela Merkel,

Ich freue mich, dass ich hier sein darf, um Angela Merkel zu würdigen, die heute für ihre Führungsleistung den Grad des Ehrendoktors verliehen bekommt.

Als vor dreißig Jahren die Berliner Mauer fiel, hätte kaum jemand damit gerechnet, dass eine junge Frau aus Ostdeutschland vier Mal zur deutschen Bundeskanzlerin gewählt und einmal Regierungschefin mit der längsten Amtszeit in der Europäischen Union werden würde.

Wenige hätten vorausgesagt, dass Angela Merkel zu einer der einflussreichsten und weithin anerkannten Führungspersönlichkeiten unserer Zeit werden würde.

Natürlich ist dies ist in vielerlei Hinsicht nur ein Teil ihrer Geschichte. Wie einer ihrer Lieblingsphilosophen, Karl Popper, einmal sagte: „Die Zukunft ist weit offen. Sie hängt von uns ab, von uns allen.“ [i]

Deshalb überrascht es nicht, dass Angela Merkel unlängst ihre eigene Zukunft als „völlig offen“ bezeichnete. [ii]

Die Zukunft ist auch weit offen für Sie, die 220 Absolventinnen und Absolventen aus 65 Nationen, und Sie dürfen stolz sein auf Ihren Abschluss von der HHL Leipzig Graduate School of Management. Glückwunsch an alle Absolventinnen und Absolventen des Jahrgangs 2019!

Als eine der ältesten Wirtschaftshochschulen bestätigt die HHL meine Vermutung, dass hier in Leipzig „irgendwas im Wasser“ sein muss.

Denken Sie nur an Leibnitz, Goethe, Nietzsche, Wagner, und – natürlich –Angela Merkel: Sie alle tranken aus der tiefen Quelle der akademischen Exzellenz in dieser wunderschönen Stadt.

Und denken Sie an den Abschlussjahrgang 2019 – eine unglaublich vielfältige Gruppe künftiger Wirtschaftsführer und Unternehmer, die vor Energie und Kreativität sprühen. Sie sind im Begriff, eine Welt zu betreten, die – in nicht geringem Maße – von der herausragenden Führungsleistung Angela Merkels geprägt wurde.

Sie ist eine Ausnahmepersönlichkeit.

Umgeben von den vollendeten Klängen des Gewandhausorchesters in diesem prachtvollen Opernhaus, werden wir auch daran erinnert, dass Angela Merkel eine große Musikliebhaberin ist. Auf ihre Lieblingsoper werde ich noch zu sprechen kommen.

2. Früheres Leben und Karriere

Doch zunächst möchte an ihren eindrucksvollen Werdegang erinnern.

Angela Merkel wird in Hamburg als Tochter eines Pfarrers und einer Lehrerin geboren. Sie wächst in Ostdeutschland zur Zeit der kommunistischen Herrschaft auf. Die Familie ist für sie ein Hort der Geborgenheit.

Sie sagte einmal: „Über meiner Kindheit lag kein Schatten.“ [iii]

Ihre großen Stärken sind Mathematik und Russisch; nach Abschluss der Schule beginnt sie ihr Physikstudium an der Universität Leipzig. In Ostberlin, wo sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin arbeitet und auf dem Gebiet der Quantenchemie forscht, macht sie ihren Doktor in Physik. Und sie wohnt in der Nähe der Berliner Mauer.

Kürzlich sagte sie, sie sei jeden Tag nach Hause gegangen und frustriert und niedergeschlagen darüber gewesen, dass die Mauer ihr Leben eingeschränkt habe.

All das änderte sich über Nacht, als 1989 die Mauer fiel. Nachdem sie die ersten 35 Jahre ihres Lebens auf der einen Seite der Grenze verbracht hatte, ergriff Angela Merkel jetzt ihre weit offene Zukunft in einem vereinten Deutschland.

Sie drückte es so aus: „Ich habe persönlich erlebt, dass nichts so bleiben muss, wie es ist ...Was fest gefügt und unveränderlich scheint, das kann sich ändern.“ [iv]

Im Dezember 1990 gewinnt sie einen Sitz im Bundestag, womit ihr Aufstieg in der Politik beginnt: Bundesministerin für Frauen und Jugend, Bundesministerin für Umwelt, Generalsekretärin und später Vorsitzende der CDU.

Im November 2005 wird sie zur Kanzlerin der Bundesrepublik Deutschland gewählt und tritt ihre erste Amstzeit an.

Doch das war nur eines von vielen „ersten“:

Angela Merkel wurde die erste Bundeskanzlerin Deutschlands und ist die erste Person aus Ostdeutschland, die dieses Amt bekleidet. Sie war die jüngste Amtsinhaberin nach dem Zweiten Weltkrieg und die erste Person in diesem Amt, die nach 1945 geboren wurde. Gleichzeitig war sie die erste Frau, die in Deutschland den Vorsitz einer politischen Partei übernahm, und die erste Naturwissenschaftlerin in diesem Amt.

Welch unglaubliche Erfolgsbilanz und welch enorme Verantwortung!

Indem sie alte Muster aufbricht und die gesellschaftliche Modernisierung in Deutschland vorantreibt, schafft Angela Merkel neue Sichtweisen, neue Gewissheiten – vor allem für Frauen. Geschlechtergleichheit inallen Bereichen ist für sie einfach eine Selbstverständlichkeit. Es ist kein Zufall, dass einige ihrer engsten Vertrauenspersonen Frauen sind.

Was ist das Geheimnis ihres Erfolgs?

Nun, wenn hier in Leipzig „irgendwas im Wasser“ ist, dann ist definitiv irgendwas in der DNA von Angela Merkel. Oder, um es in der Managementsprache dieser Schule auszudrücken: Es muss ein „Merkel‘sches Führungsmodell“ geben.

3. Angela Merkels Führungsstil – persönliche Gedanken

Lassen Sie mich einige persönliche Gedanken über ihren außerordentlichen Führungsstil vorbringen.

Wie ich bereits zu Beginn meiner Rede sagte, liebt Angela Merkel nicht nur Musik, sondern auch Opern, ernsthafte Opern, namentlich die von Richard Wagner. Ihre Lieblingsoper ist Tristan und Isolde, eine dramatische Liebesgeschichte untermalt mit ausdrucksstarker, mitreißender Musik.

Sie hört aber auch gern Johann Sebastian Bach, der einige seiner größten Werke hier in Leipzig komponierte. Und wenn ich an Angela Merkels Führungsstil denke, dann kommt mir Das wohltemperierte Klavier von Bach in den Sinn.

Warum? Weil diese Sammlung von Präludien und Fugen nicht nur eine große Inspiration – für Haydn, Mozart und Beethoven – war, sondern auch den Führungsstil von Angela Merkel widerspiegelt; einen Stil, der ausgewogen, methodisch und wohltemperiert ist.

Sie weiß, wie man den richtigen Ton trifft, und hat eine besondere Begabung dafür, die – wie ich sie nenne – Vier D zu spielen: Diplomacy (Diplomatie), Diligence, Determination und Duty.

a) Diplomacy

Beginnen möchte ich mit Diplomatie. Damit meine ich Angela Merkels unermüdlichen Einsatz dafür, Menschen an einen Tisch zu bringen. Um es mit ihren Worten zu sagen: „Ich suche Kooperation statt Konfrontation.“

Das ist stets der Ausgangspunkt für Angela Merkels Führungsweise – vor allem auf der Weltbühne.

Ob Klimawandel, Migrationsdruck, Handelsspannungen oder Bedenken beim Datenschutz, Angela Merkel weiß genau, dass wir nicht alleine spielen können, sondern Teil eines modernen, „internationalen Orchesters“ sein müssen.

Sie weiß, dass das multilaterale System maßgeblichen dazu beigetragen hat, Milliarden von Menschen zu besserer Gesundheit, mehr Wohlstand und mehr Bildung zu verhelfen.

Sie kennt auch die Grenzen und Herausforderungen dieses Systems: Es gibt keinen Dirigenten mit einem magischen Taktstock; die verschiedenen Völker und Kulturen spielen ihre eigenen Instrumente, und die Missklänge in Form von Populismus und Nationalismus nehmen zu – nicht zuletzt, weil nicht alle vom bestehenden System profitieren.

Das ist der Grund, warum sich Angela Merkel so viele Jahre dafür eingesetzt hat, Unterstützung für mehr Kooperation und weniger Konfrontation zu gewinnen – für ein besseres multilaterales System. Dafür gebührt ihr größte Anerkennung.

Manchmal mag es einem vorkommen, als ob sie alleine spiele. Im Grunde genommen mag sie keine übertriebenen Emotionen; ihr feiner Sinn für Humor zeigt sich in der Öffentlichkeit nur selten, und sie sucht nicht das Rampenlicht. Aber sie spielt niemals alleine. Wir alle spielen mit ihr und lassen uns von ihr führen.

b) Diligence

Dies bringt mich zum zweiten „D“ – Diligence, dem englischen Begriff für Sorgfalt – die ein wesentlicher Bestandteil ihrer wolhltemperierten Diplomatie ist. Was meine ich damit?

Angela Merkel ist immer die am besten vorbereitete Person im Raum und kennt sämtliche Briefingunterlagen. Sie befasst sich methodisch und geduldig mit einem Problem, zerlegt es in seine Einzelteile, wägt die Vor- und Nachteile ab und entwickelt Schritt für Schritt eine Lösung.

Tatsächlich geht ihre Sorgfalt weit über Produktivitätszahlen, Klimastatistiken und alle anderen alltäglichen Probleme hinaus. Hier beziehe ich mich auf die Tatsache, dass Angela Merkel ein großer Fußballfan ist.

Sie bewundert Fußballmanager wie Jürgen Klinsmann, der einen logischen Ansatz in eine mühelose Mannschaftsleistung umwandeln kann. Und natürlich lieben es die Zuschauer, ihre besondere Art des Jubelns zu sehen, wenn Die Mannschaft ein Tor geschossen hat.

Ein ehemaliger Spieler der englischen Nationalmannschaft sagte einmal: „22 Männer jagen 90 Minuten lang einem Ball nach, und am Ende gewinnen die Deutschen.“ [v] Nun ja, was das Ergebnis der letzten Weltmeisterschaft angeht, so waren es doch eher die deutschen Fussball-Frauen, die erfolgreich waren – aber ich schweife ab!

Die Frage ist, wie es Angela Merkel gelingt, Menschen für sichzu gewinnen, die ihren logischen Ansatz nicht teilen, Menschen, die nicht Teil des Orchesters sein wollen.

c) Determination

Genau hier kommt das dritte „D“ ins Spiel – Determination, der englische Begriff für Entschlossenheit.

Wir alle wissen, dass Angela Merkel über außergewöhnlich viel Energie und Durchhaltevermögen und eine unglaubliche innere Kraft verfügt, die sie in die Lage versetzt, Verhandlungen so lange zu führen, bis eine Einigung erzielt ist.

Ihr Ziel ist es stets, den so wichtigen Kompromiss zu finden, bei dem definitionsgemäß alle Parteien zwar etwas unzufrieden sind, letztlich aber alle besser als vorher dastehen. Diese Denkweise hat unsere Welt vor allem in den letzten zehn Jahren stark geprägt.

Zu Beginn der globalen Finanzkrise betonte Angela Merkel gegenüber dem Präsidenten der Vereinigten Staaten [George W. Bush], „dass es einer internationalen Antwort auf diese internationale Krise bedarf“. [vi] Es war ihre unerschütterliche Entschlossenheit – insbesondere innerhalb der G20-Länder –, die der Welt half, diese Antwort zu finden und eine weitere Großen Depression zu verhindern.

Zu der vielleicht größten Herausforderung überhaupt kam es während der Staatsschuldenkrise der Euro-Länder, mit den scheinbar endlosen Krisengesprächen und dem permanenten Strom an negativen Meldungen von den Finanzmärkten und aus der Politik.

Angela Merkel beschrieb es mit den folgenden Worten: Es war „ wie in einem dunklen Raum, so dunkel, dass man die Hand vor Augen nicht sehen konnte .“ [vii]

Wir wissen, dass Angela Merkel hart für den Zusammenhalt des europäischen Orchesters in dieser schweren Zeit gekämpft hat. Sie hat damals mitgeholfen, gemeinsame Kräfte zu mobilisieren, damit die den von der Krise betroffenen Länder beispiellose Unterstützung erhalten. Fiskalregeln wurden gestärkt und neue wichtige Institutionen wurden geschaffen – wie der Europäische Stabilitätsmechanismus.

Und dennoch steht eines fest: Entschlossenheit, Sorgfalt und wohltemperierte Diplomatie hätten nicht ausgereicht, um diese Herausforderung zu bewältigen.

d) Duty

Ein Element fehlt noch. Was ist es? Wie lautet das oberste Leitmotiv, das den Führungsstil von Angela Merkel bestimmt?

Die Antwort ist einfach: Tagtäglich zieht Angela Merkel Kraft aus ihrem tief verwurzelten Pflichtbewusstsein – ihrem Sense of Duty, dem finalen „D“.

Denn trotz ihrer methodischen Arbeits- und rationalen Denkweise ist es dieses Pflichtbewusstsein, das Angela Merkel lenkt. Warum? Weil sie weiß, dass manche Dinge, wie sie es nennt, „Herzensangelegenheiten“ sind.

Für sie ist Europa letztlich eine Herzensangelegenheit – ebenso wie ihre feste Überzeugung, dass Deutschlands Schicksal in einem von Frieden und Wohlstand geprägten Europa liegt – in einem Europa, das aus den schrecklichen Ereignissen des 20. Jahrhunderts gelernt hat und sich zu Vielfalt, Freiheit und Toleranz bekennt.

Die Würde des Menschen ist für sie eine Herzensangelegenheit – ebenso wie die großen damit verbundenen Fragestellungen. Wie können wir die Ursachen von Vertreibung und Zwangsmigration beseitigen? Wie können wir sicherstellen, dass die digitale Transformation allen Menschen zugutekommt? Wie können wir die existenzielle Bedrohung durch den Klimawandel bekämpfen?

4. Zusammenfassung

Angela Merkel begegnet diesen Fragestellungen mit einem unerschütterlichen Pflichtbewusstsein, mit großer Demut und tiefgründigem Optimismus.

Um es mit ihren Worten zu sagen: „Fragen wir deshalb nicht zuerst, was nicht geht oder was schon immer so war; fragen wir zuerst, was geht, und suchen wir nach dem, was noch nie so gemacht wurde.“ [viii]

In den letzten dreißig Jahren verkörperte Angela Merkel diese von Mut und Führungskraft geprägte Denkweise. Indem sie den richtigen Ton trifft und ihre eigene wohltemperierte Musik schreibt, zeigt sie uns, dass auch wir eine weit offene Zukunft vor uns haben.

Niemand kann hinter den Schleier der Zeit blicken, doch ich glaube ernsthaft, dass die Musik von Angela Merkels Leben nicht nur bei der heutigen Generation, bei diesen Absolventinnen und Absolventen oder gar nur in Deutschland Anklang findet, sondern bei Generationen von Menschen in aller Welt.

Danke für Ihre Aufmerksamkeit!



[i] Karl Popper (1992): The Lesson of this Century.

[ii] Angela Merkel: Rede bei der Graduationsfeier der Harvard University, 30. Mai 2019.

[iii] Interview mit der Fotografin Herlinde Koelbl, 1991.

[iv] Angela Merkel: Rede bei der Graduationsfeier der Harvard University, 30. Mai 2019.

[v] Gary Lineker, Ex-Fußballprofi und Sportkommentator.

[vi] Angela Merkel: Rede beim Global Solutions Summit am 19. März 2019 in Berlin.

[vii] Stefan Kornelius (2014): Angela Merkel: Die Kanzlerin und ihre Welt.

[viii] Angela Merkel (2005): erste Regierungserklärung als neu gewählte Bundeskanzlerin vor dem Deutschen Bundestag.

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